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Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes

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Kir Bulytschow
Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes

Originalausgabe = dt. Erstausgabe: Januar 2020 (Memoranda Verlag)
Übersetzung: Kira Saschinskaja und von Ivo Gloss.
Gestaltung: benSwerk
Cover unter Verwendung eines Fotos der Skulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ von Vera Muchina
Illustrationen: Renate Gloss (Karikatur des Autors: von ihm selbst gezeichnet)
299 Seiten
ISBN 978-3-948616-00-7

von Gunther Barnewald


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Diese Zusammenstellung wurde von Ivo Gloss ediert. Er hat auch den größten Teil des Buches übersetzt sowie ein Nachwort über den Autor und sein Werk beigesteuert. Hinzu kommt eine (deutsche) Bibliographie Bulytschows, dessen bürgerlicher Name Igor Moshejko lautet. Präsentiert werden ein Roman und drei Kurzgeschichten. Alle sind sehr gesellschaftskritisch, oft satirisch oder gar ökologisch angehaucht und, obwohl meist in den 1980er Jahren entstanden, heute aktueller denn je.

In der Titelgeschichte landen außerirdische Kabinen während der Breschnew-Ära auf der Erde. Jeder Nation wird angeboten einen verstorbenen Helden wiederzubeleben. Wer bei einer Abstimmung von der jeweiligen Bevölkerung meistnominiert wird, kehrt zurück. Im Zentralkomitee des Politbüros der UdSSR herrschen daraufhin helle Panik und Aufruhr: Was, wenn die Leute sich Stalin zurückwünschen oder – vielleicht noch schlimmer – Lenin? Das gilt es zu verhindern, denn sonst verliert das ZK der greisen alten Männer bald seine Macht. Also schreibt man dem Volk zum Leidwesen der armen Puschkin-Gesellschaft vor an Karl Marx zu denken. Der konnte nicht einmal Russisch und könnte in die DDR abgeschoben werden. Sollte dies schiefgehen, hat man noch einen perfiden Plan B parat, der dann auch zur Anwendung kommt …

Eine hundsgemein-wunderbare politische Farce, die der Autor hier aus dem Ärmel schüttelt! Sie allein wäre schon die Anschaffung dieses Bandes wert. Es folgt ein etwa 220-seitiger Roman, der harmlos und unspektakulär mit dem Besuch eines sowjetischen Auslandskorrespondenten in der Provinz beginnt, wo dieser zur Bildung der einfachen Werktätigen Vorträge halten soll. Doch bald wird der Journalist in eine Intrige verwickelt und erfährt zudem, dass am Ort mehrere große Fabriken stehen, die gefährliche Gifte unkontrolliert in die Umwelt entlassen. Während die Leiter des chemischen Werkes, der Futtermittelfabrik und des Textilkombinats ihre eng getakteten Jahrespläne zu erfüllen haben und deshalb keine Rücksicht auf den Umweltschutz nehmen, fließen die Giftstoffe in einen nahegelegenen See, bis es – eigentlich völlig vorhersehbar – zum ökologischen Super-GAU kommt …

Der Roman beginnt etwas bräsig, bevor der Autor im zweiten Teil abrupt den Turbolader zündet. Dann wird es ungeheuer spannend und beklemmend. Noch schlimmer gestaltet sich das Danach der tödlich schleichenden Katastrophe, in der die Verantwortlichen zeigen, wie man geschickt auch Tausende von Toten verheimlichen kann. Mit geradezu maliziöser Detailliertheit zeigt der Autor, wie sich die Verursacher aus der Verantwortung stehlen. Wer den erschreckenden russischen Spielfilm von 2014 kennt, der hierzulande bei „Arte“ unter dem Titel „Durak – der ehrliche Idiot“ (manchmal auch „Durak – der Narr“ oder „Durak, der Idiot“) lief, weiß, welche Strukturen in der ehemaligen Sowjetunion für solche Fälle existierten und bis heute in Russland existieren.

Während im Westen mit Filmen wie „Smog“ (1973) oder „Im Zeichen des Kreuzes“ (1982) relativ früh auf industriell bedingte Gefahren aufmerksam gemacht wurde, durften solche „defätistischen“ Themen im Ostblock nicht aufgegriffen werden. Selbst der Atomkrieg war bis zum Zeitalter von Glasnost und Perestroika tabu. Natürlich wurde über reale Zwischenfälle (siehe Tschernobyl) erst recht gelogen.

Bulytschows Roman ist nicht nur deshalb noch heute interessant, weil sich das von ihm Beschriebene weiterhin irgendwo in der Welt ereignen könnte, sondern auch weil der Autor sich auch mit dem ‚Nachher‘ beschäftigt und zeigt, mit welcher Perfidie sich hochrangige Verantwortungsträger aus ihrer Verantwortung stehlen können und welche kriminelle Energie hier entsteht.

Dem Roman folgen noch zwei kurze Storys. In „Der freie Tyrann“ bereist ein Mann namens Udalow eine Art Alternativwelt, in der ein Tyrann mittlerweile so viele Menschen hat einsperren lassen, dass diese in einem riesigen Freigehege leben, welches fast die ganze Welt umfasst. Als der Tyrann auch noch die letzten Menschen dazu sperren lässt, stellt er fest, dass nunmehr er einsam jenseits des Zauns sitzt.

Diese Story ist nur eine arg plakative politische Groteske mit Schmunzel-Effekt. Kundige Leser gehen wohl zu Recht davon aus, dass es sich bei der Hauptfigur um einen von Bulytschows Lieblingsprotagonisten namens Korneli Udalow handelt. Er lebt in der fiktiven Stadt Guslar (oder besser Groß-Guslar): Der Autor hat sich seinen eigenen literarischen Ort erschaffen. (Man denke auch an Ray Bradburys Green Town, Illinois oder Stephen Kings Castle Rock, Maine.)

In „Der alte Iwanow“ wird von einem Mann berichtet, der so gierig nach Prämien ist, dass er jeden Auftrag durchpeitscht. Iwanows Erfolg ist ist haarsträubend groß, obwohl er immer heftigere Schäden anrichtet, Die Hauptsache ist der Erhalt des Auftrags und die Erfolgsprämie bei Durchführung. Natürlich ist Iwanow auch beim Weltuntergang erfolgreich, doch wer zahlt, wenn niemand mehr lebt …?

Auch diese Geschichte wirkt etwas überzogen und ist zu offensichtlich grotesk, um nachhaltig Wirkung zu verbreiten. Insgesamt muss man dem Herausgeber (und einem mutigen Kleinverlag) ein großes Kompliment aussprechen: Auch wenn die Übersetzung an der ein oder anderen Stelle sprachlich etwas geschmeidiger hätte sein können, ist es doch wunderbar, endlich wieder etwas bisher in Deutschland noch Unveröffentlichtes eines großartigen russischen Schriftstellers lesen zu dürfen. Vor allem die erste Kurzgeschichte und der spannende, hervorragend geschriebene Roman, sind die Anschaffung des Buchs allemal wert.

Wer die älteren Erzählungen des Autors – allen voran die Geschichten um Alissa und die aus Groß-Guslar kennt, hat mit Bulytschow bereits einen im wahrsten Sinn des Wortes phantastischer Erzähler kennengelernt, der seine Leser mit Haut und Haaren packen, Gefühle erzeugen, Wunder glaubhaft machen und vor allem so prägnant und fast schon sinnlich (nicht in sexuellem Sinne gemeint) beschreiben konnte, dass man bei ihm das Gefühl hatte, bei den Geschehnissen vor Ort zu sein und zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken, was die Protagonisten gerade erlebten.

Leider erinnert das Titelbild (und der eigentlich satirisch gemeinte Titel des Buches, übernommen von der ersten Kurzgeschichte) etwas zu sehr an alte, totalitäre Tage. Ansonsten ist der Band liebevoll aufgemacht – so findet sich auf der Umschlagklappe eine Karikatur des Autors, die er einst selbst gezeichnet hatte) und zusammengestellt.

Schade, dass es wohl nicht weitergeht. Mein Wunsch an den kleinen Verlag wäre: Bitte mehr von Bulytschow, wenn es geht, denn so viel ist von seiner Prosa noch nicht in Deutschland erschienen. Einen so wunderprächtigen Erzähler weiter zu ignorieren, wäre einfach nur Sch …

Copyright © 2020 by Gunther Barnewald

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